Wie hoch ist die Chance, dass eine steuerpflichtige Person ihren Fall vor Bundesgericht gewinnt? Als hoffnungsfroher Steuerpflichtiger würde man vielleicht 50% erwarten -aufgrund des statistischen Gesetzes der grossen Zahl. Die Realität sieht leider deutlich düsterer aus. Zwei in der steuerlichen Literatur publizierten Analysen zufolge lag die Erfolgsquote im Jahr 2004 resp. im Jahr 2021 nur bei etwa 10% resp. 17%. Allerdings handelte es sich zum Teil lediglich um Doppelbesteuerungsfälle, d. h. es ging nur darum, welcher Kanton gegenüber einem anderen Kanton den Vorzug erhält.
Selbst wenn eine statistische Erfolgsquote von 50% aus verschiedenen Gründen nicht erwartet werden darf, ist die tiefe Erfolgschance vor Bundesgericht bemerkenswert. Sie lässt Steuerpflichtige ratlos und frustriert zurück. Ein Schelm, wer dabei Schlechtes denkt! Zumindest lässt sich die Differenz der Erfolgsquote nicht mit der in Steuerverwaltung und Privatwirtschaft wohl ausgewogen verteilten Fachkompetenz erklären. Wir müssen uns wohl einfach mit der Religion zufriedengeben, zumal der Volksmund sagt: "Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand."
Zum Glück gibt es aber auch diejenigen Fälle, wo das Bundesgericht Einsehen zeigt und sich zugunsten der Steuerpflichtigen entscheidet. Geschehen ist ein solches «Wunder» dieses Jahr im Februar. Ja, es war sogar eine kleine Revolution, weil das Bundesgericht eine seltene Praxisänderung vorgenommen hat. Worum geht es?
Wird eine Liegenschaft saniert, muss bei den baulichen Massnahmen seit jeher unterschieden werden, ob sie den Wert der Liegenschaft nur erhalten oder vermehren. Kosten für werterhaltende Massnahmen dürfen bei der Einkommenssteuer in Abzug gebracht werden, Kosten für wertvermehrende Massnahmen können hingegen erst bei einem künftigen Verkauf der Liegenschaft bei der Grundstückgewinnsteuer geltend gemacht werden (sog. Anlagekosten).
Das Bundesgericht hat jedoch vor 50 Jahren entschieden, dass selbst Kosten für die Instandstellung einer Liegenschaft nicht bei der Einkommenssteuer abgezogen werden dürfen, wenn die Liegenschaft kurz zuvor gekauft wurde. Damit war die sogenannte Dumont-Praxis geboren. Diese galt danach, teilweise in angepasster Form, bis und mit 2009. Erst als der Gesetzgeber eingegriffen und per 1. Januar 2010 eine Gesetzesbestimmung neu formuliert hatte, musste die Dumont-Praxis aufgegeben werden.
Ende gut, alles gut? Mitnichten. Einige Steuerverwaltungen konnten sich damit nicht abfinden und erfanden etwas Neues: WTN oder wirtschaftlich-technischer Neubau. Diese Formel lautete ungefähr wie folgt: Kosten für bauliche Massnahmen im Zusammenhang mit dem Umbau oder der Totalsanierung einer Liegenschaft wird der steuerliche Abzug vollständig verweigert, wenn die Gesamtsanierung wirtschaftlich einem Neubau gleichkommt. Zur Ehrenrettung gewisser Steuerbehörden darf jedoch erwähnt werden, dass nicht alle Kantone diese restriktiv-kreative Sichtweise angewendet haben, andere dafür mit sehr viel Fleiss. Das Problem dabei: Das Bundesgericht hat mitgespielt und ab 2014 mehrmals zugunsten des Fiskus entschieden.
Und jetzt: Auftritt des kleinen Wunders. Das Bundesgericht ist überraschend in sich und über die Bücher gegangen. In zwei Entscheiden von Ende Februar und Ende März (9C_677/2021 resp. 9C 724/2022) hat das Bundesgericht der Figur des WTN eine Abfuhr erteilt. Von nun an gilt, was eigentlich schon immer hätte gelten sollen: Bei einem Umbau oder bei einer Gesamtsanierung muss jede einzelne bauliche Massnahme dahin gehend untersucht werden, ob sie der Erhaltung des Liegenschaftswertes dient oder ob sie den Wert der Liegenschaft steigert. Dies ist eine anspruchsvolle, zeitweilig mühsame und zugegebenermassen oftmals nicht einfach zu entscheidende Fragestellung. Neu können die Steuerbehörden aber nicht mehr die WTN-Abkürzung nehmen und den Abzug vollständig verweigern. Dies gilt notabene für alle Fälle, die noch nicht veranlagt sind. Wer eine noch pendente Steuerdeklaration unter dem Eindruck der WTN-Praxis eingereicht hat, sollte sicherheitshalber ein Rektifikat nachreichen. Zwar hat die WTN-Geschichte nun die Wende zum Guten genommen, allerdings bleibt doch ein bitterer Nachgeschmack. Erstens hat es fast 10 Jahre gedauert, bis das Bundesgericht erkannt hat, dass die Praxis falsch war viele Steuerpflichtige mussten tief in die Tasche greifen, um diese von der Verwaltung vorangetriebene Fehlentwicklung zu bezahlen. Zweitens hört man bereits aus einigen Kantonen, dass man dem Urteil zwar Nachachtung verleihen wolle, aber das eine oder andere doch auch weiterhin nicht abzugsfähig sein werde. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesgericht auch bei anderen umstrittenen steuerlichen Fragestellungen über die Bücher geht. Die oben erwähnten Bundesgerichtsurteile sind unter den 9C-Nummern publiziert, d. h., sie wurden durch die umstrukturierte III. öffentlich-rechtliche Abteilung gefällt, die ihren Sitz neu in Luzern hat. Die neue Organisation des Bundesgerichts führt vielleicht zu einer stärkeren Spezialisierung der Bundesrichter im Steuerrecht und zu einer neuen kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung.
AUTOR
Christoph Lehmann
dipl. Steuerexperte
Betriebsökonom HWV Partner
steuerpartner ag